Frau Kirsten Himmel, eine langjährige Mitarbeiterin des Einrichtungsverbundes Bremer Erziehungsstellen, verfasste diesen Vortrag für den Fachtag der EREV, der im Jahr 2010 zu dem Thema: Erziehungsstelle – Erziehung auf Zeit – in Hannover stattfand.

Kontakt zu jungen Erwachsenen nach dem Leben in der Erziehungsstelle

Guten Tag. Mein Name ist Kirsten Himmel. Ich lebe mit meiner Familie in einem kleinen Ort in der Nähe von Bremen. Außerdem möchte ich Ihnen eine junge Frau vorstellen. Über sie werde ich heute viel erzählen. Aus datenschutzrechtlichen Gründen wird sie in meinem Bericht nicht ihren eigentlichen Namen tragen. Hier heißt sie Anna.

Anna hat sieben Jahre als Erziehungsstellenkind/-jugendliche in meiner Familie gelebt. Heute ist sie 22 Jahre alt und alleinerziehende Mutter von einem dreijährigen Mädchen.

Seit 2001 bin ich im Rahmen der Erziehungsstellenarbeit Mitarbeiterin im Einrichtungsverbund Bremer Erziehungsstellen

Mein Erfahrungsbericht richtet seinen Fokus auf den Kontakt zwischen Anna, meiner Familie und mir, nach der Erziehungsstellenzeit. Ich möchte Ihnen jedoch einen kurzen Einblick in den Zeitraum, in dem Anna bei uns gelebt hat, verschaffen.

Mit elf Jahren kamen Anna und ihre zwei Jahre jüngere Schwester als Pflegekinder zu uns. Das Jugendamt Berlin Mitte hatte bei mir angefragt, ob die beiden Kinder zur Übergangspflege in den Sommerferien, in unserer Familie aufgenommen werden könnten. Die Mutter der beiden Mädchen litt schon seit mehreren Jahren unter einer psychischen Erkrankung. Stationären Aufenthalte in der Psychiatrie hatten es auch schon vorher notwendig gemacht, dass die Kinder vorrübergehend in Pflegefamilien untergebracht wurden. Ihre Biografie war gekennzeichnet von mehren traumatischen Erfahrungen und sie kamen in einem auf allen Ebenen verwahrlosten Zustand zu uns.

Als nach den Sommerferien feststand, dass die Kinder nicht zu ihrer Mutter nach Berlin zurückkehren konnten, geriet die Planungsperspektive für sie hinsichtlich eines kontinuierlichen Lebensmittelpunktes immer wieder ins Wanken. Im Kontakt zu ihrer Mutter erhielten die Kinder immer wieder unterschiedliche Botschaften und so saßen sie über Monate auf “gepackten Koffern“. Nach zwei Jahren hatte sich der Zustand der Mutter stabilisiert. Sie zog aufs Land und gründete einen Ziegenhof. Die Kinder sollten zurückkehren. Anna und ihre Schwester wurden im Jugendamt gefragt, ob sie zur Mutter zurückkehren möchten. Und obwohl es Anna war, die sich all die Jahre für das Wohlergehen ihrer Mutter verantwortlich gefühlt hatte, war sie es die eine Rückkehr ablehnte. Ihre Schwester kehrte zur Mutter zurück und wurde nur ein paar Wochen später erneut in einer Pflegefamilie untergebracht, dann abwechselnd in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hildesheim, in Lüneburg, in der Pflegefamilie usw.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich entschieden, diese Arbeit nur noch als Erziehungsstelle weiterzumachen. Eine Zustimmung des Jugendamtes erfolgte und durch die neuen Rahmenbedingungen, durch die veränderte Geschwisterkonstellation und vor allen Dingen durch Annas klare Entscheidung boten sich zum ersten Mal Möglichkeiten der Kontinuität, der Planung ihrer Zukunft, der Sicherheit. In den kommenden fünf Jahren konnte Anna mit Hilfe einer Kinder- und Jugendpsychologin und durch die Erziehungsstelle Stabilität und Vertrauen in ihre Fähigkeiten entwickeln. In der 13. Klasse – ein halbes Jahr vor ihrem Abitur- fasste sie den Entschluss in eine WG in einen anderen Ort zu ziehen. Eigentlich hatten wir einvernehmlich im kurz vorher stattgefundenen Hilfeplangespräch eine Verlängerung der Maßnahme erkämpft. Denn Anna war inzwischen 18 und die fallführende Fachkraft im Jugendamt stand schon unter Druck und hätte gern die Maßnahme beendet. So kam ihr Annas Entschluss sehr gelegen und innerhalb von zwei Wochen war entschieden: sie konnte in der WG einziehen und in dieser neuen Lebensphase sollte sie von einem EB mit zwei Stunden wöchentlich unterstützt werden.

Dieser überstürzte Abbruch (aus meiner Sicht)/ dieser notwendige Aufbruch aus Annas Sicht verlief sehr turbulent (und das hört sich noch harmlos an). Alle Möglichkeiten, die ich mir unter einer Loslösung, unter dem Schritt in die Selbstständigkeit, unter “sein Leben eigenverantwortlich in die Hand nehmen“, vorgestellt hatte, wurden durch Annas Strategie des Abschiednehmens unmöglich. So hatte sie in ihrer Biografie diese Situationen erlebt – wenn sich Menschen trennen, muss dabei alles unwiderruflich zerstört werden. Höhepunkte waren dabei das Zündeln in unserem Haus und das Beschmieren unserer Wände mit Hassparolen.

Bei aller Nähe und trotz einer intensiven Beziehung, die zwischen allen Familienmitgliedern und Anna in den vergangenen Jahren entstanden war, hatten wir nach Annas Auszug alle das Bedürfnis nach Distanz. Meine Kinder waren sehr verletzt von Annas Verhalten…

Im nächsten halben Jahr hatten wir keinen Kontakt zu ihr. In dieser Zeit brach sie die Schule ab, war für die Erziehungsbeistandschaft nicht erreichbar, wechselte mehrmals den Wohnort, trampte durch Europa und wurde schwanger. Mit dem Vater des Kindes bezog sie eine Wohnung in Bremen und gemeinsam planten sie ihre Zukunft. In dieser Zeit nahm sie wieder Kontakt zu mir auf und wir trafen uns hin und wieder zu langen Gesprächen. Annas Gefühle zu ihrer Schwangerschaft und zu dem werdenden Kind waren häufig sehr widersprüchlich. Einerseits war sie sehr stolz und glücklich über ihre Partnerschaft und über die Gründung einer Familie, andererseits hatte sie große Angst davor die Bedürfnisse ihres Kindes nicht wahrnehmen zu können, nicht zu erkennen was wichtig für das Kind sein würde. Ich versuchte sie zu bestärken, in dem ich sie an Situationen erinnerte, in denen sie Einfühlsamkeit und starkes Verantwortungsgefühl gezeigt und dem entsprechend gehandelt hatte.

Als Annas Tochter geboren wurde, nahmen auch meine Kinder und mein Mann wieder Kontakt zu ihr auf. Anna kam nun häufiger zu uns nach Haus. Einige Male rief sie mich an und war sehr verzweifelt, weil sie sich um jede Kleinigkeit Sorgen machte. Dann das Bedürfnis hatte, das wiederum genau analysieren zu wollen und wie sie sagte „immer auf der Stelle trat“. Ich war oft überrascht von ihrer Ehrlichkeit und Offenheit, mit der mir ihre Nöte und Ängste schilderte. Besonders ängstigte sie das Gefühl der Leere, dass sie manchmal empfand, wenn sie ihre Tochter betrachtete. Einmal sagte sie zu mir: „Ich sehe sie an und denke: Ja gut, da liegt ein Baby, aber was hat das mit mir zu tun?“
Ein Jahr nach der Geburt ihres Kindes, trennte sich Annas Freund von ihr. Er versprach ihr sich weiterhin um das Kind zu kümmern, erkrankte aber kurze Zeit später und war dadurch für Mutter und Kind nicht erreichbar.

In dieser Zeit zog meine 20 jährige Tochter wegen ihres Studiums in den gleichen Stadtteil in dem auch Anna wohnt und der Kontakt wurde dadurch, dass meine Tochter zweimal in der Woche, während Anna die Abendschule besucht, auf ihre Tochter aufpasst, wieder intensiviert. In diesem Rahmen gestaltet sich seit eineinhalb Jahren ein verlässlicher Kontakt zwischen diesen drei Menschen, der Anna bestärkt hat ihr Ziel weiterzuverfolgen und im kommenden Frühjahr ihr Abitur zu machen.

Die Beziehung zwischen Anna und mir hat sich verändert. Wir sind uns selten noch so nah, wie zu der Zeit als sie „mein Erziehungsstellenkind“ war, aber was mir sehr viel bedeutet, ist die Offenheit mit der mir Anna vieles anvertraut, wobei ich spüre, es ist ihr wichtig meine Meinung oder meine Haltung zu ihren Themen zu erfahren und sich damit auseinander zu setzen. Und das diese Gespräche auch einen Anteil daran haben, dass sie nicht den Mut verliert ihr Ziel weiterzuverfolgen.

Anna hat durch ihr Wesen wiederum einen Anteil daran, dass ich immer großes Interesse daran hatte mein Handeln und meine Haltung zu reflektieren und mich einigen Herausforderungen zu stellen, deren Bewältigung mir am Herzen lag.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit !

Wertschätzender und respektvoller Umgang miteinander und das Nutzen der Ressourcen der MitarbeiterInnen bereichern meine Arbeit als Fachberater.

Uwe Rahenbrock
Fachberater seit 2003